In Verbindung bleiben

unternehmer-deutschlands.de

Julia Bernsee

Interview

Julia Bernsee – die Kraftgeberin: “Demenz darf nicht das Leben der Töchter bestimmen”

Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind aktuell durch eine Demenzerkrankung betroffen, jährlich kommen Neuerkrankungen in sechsstelliger Höhe dazu. Das Krankheitsbild der Demenz ist dabei nicht nur für die Betroffenen eine Herausforderung, die langsam, aber sicher ihr eigenes Leben vergessen, sondern auch für alle Töchter, die sich täglich aufopferungsvoll um ihre Angehörigen kümmern.

Dabei fühlen sich viele so stark verpflichtet, dass sie ihr eigenes Leben aufgeben und fast bis in den Burn-out hinein ihrer familiären Herausforderung nachkommen. Julia Bernsee, bekannt als die Tochter der Mutter des Vergessens, hat sich dieser Thematik angenommen und begleitet heute Töchter, die sich dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen sehen, dadurch aber vor Erschöpfung fast zerfressen werden.

Wir haben exklusiv mit ihr gesprochen und erfahren, warum sie der Meinung ist, dass die Demenz keine Oberhand über das Leben der Töchter gewinnen darf.

Julia Bernsee im Interview

Herzlich Willkommen bei Unternehmer Deutschlands Julia Bernsee. Du bist bekannt als die Tochter der Mutter des Vergessens, wie kam es dazu?

Meine Mutter leidet seit ein paar Jahren an Demenz und ich selbst pflegte sie einige Zeit. Eigentlich war ich als Coach und Heilpraktikerin selbstständig tätig und wollte mein Angebot erweitern. Damals befand ich mich gerade im Studium des Heilpraktikers der Psychotherapie. Aber die Erkrankung meiner Mutter zehrte so sehr an mir, dass ich mich nicht weiterentwickeln konnte. Dadurch entstand das Bedürfnis, meine Eindrücke einfach in den sozialen Medien zu teilen, um wenigstens offen und ehrlich mit den Herausforderungen umzugehen.

Einige Wochen später entdeckte ich durch Zufall, dass meine Videos millionenfache Aufrufe hatten, meine Mutter wurde förmlich zu einem Star und erhielt den Beinamen: Die Mutter des Vergessens und ich, als Tochter, stand daneben, was mir meinen Namen einbrachte.

Die Pflege bleibt meist bei den Töchtern

Ok, nun sprichst du ja mit deinem neuen Mentoring vor allem Töchter und weibliche Angehörige von Demenzerkrankten an. Wie kommt es dazu?

Betrachten wir es mal realistisch. Wenn ein Familienangehöriger krank wird, wer springt dann für die Pflege und Betreuung ein? In den meisten Fällen die Töchter, Mütter, Schwestern oder andere weibliche Angehörige. Wir übernehmen alles neben unseren täglichen Rollen, die wir ohnehin schon begleiten. Das beginnt meist schon ab dem Tag, an dem wir selbst Mutter werden oder die kleineren Geschwister versorgen. Wickeln, füttern, erziehen. Bei unseren Eltern ist es dann eben die Pflege und Betreuung.

So war es auch bei mir. Ich wollte mein Unternehmen weiterentwickeln, aber stattdessen kostete mich die Pflege meiner Mutter so viel Zeit und teilweise auch Überwindung, dass ich abends am liebsten zusammengebrochen wäre. Ich bin heute dankbar für jede einzelne Erfahrung – ich weiß, was ich geschafft habe. Aber ich habe auch erkannt, dass viele Frauen, vor allem Unternehmerinnen, so kämpfen müssen, wie ich und es eben nicht schaffen. Sie manövrieren sich förmlich in die komplette Erschöpfung, weil neben dem Geschäftsalltag, zuhause noch jemand wartet, der die volle Aufmerksamkeit verlangt. Zwangsläufig geben sie dem Druck irgendwann nach, vernachlässigen ihre Weiterentwicklung und opfern sich bis an ihre Grenzen auf.

Und wie kannst du diesen betroffenen Frauen helfen?

Zunächst mit meiner ursprünglichen Ausbildung. Ich war ganz anfänglich Heilpraktikerin für Pferde, als ich aber mitbekam, dass es den Tieren besser ging, wenn ich mich auch um ihre Besitzer und deren Bedürfnisse kümmerte, erweiterte ich meinen Fokus. Durch Hypnose, Atemübungen, Bewusstmachung, Entspannungstechniken, Aromatherapien und die Vermittlung einer guten Work-Life-Balance half ich damals schon vielen aus ihrer Zwickmühle.

Das hilft auch den Frauen heute weiter, die sich an mich wenden. Aber in den meisten Fällen brauchen sie jemanden Außenstehenden zum Reden und Zuhören. Jemanden, der sie versteht, wenn sie mal nicht mehr weiterwissen. Die sie an die Hand nimmt und ihnen sagt, das ist okay, was sie gerade denken und fühlen.

Was wir an dieser Stelle nicht vergessen dürfen: viele in meiner Generation haben kein perfektes Verhältnis zu ihrer Mutter. Im Gegenteil: sie mussten mit Strafen, Ignoranz oder Enttäuschungen leben, fehlender Zuwendung oder einfach Abneigung – oft geschuldet durch die Erfahrungen, die unsere Mütter gemacht haben.

Bei mir war das ähnlich. Die Mutter-Kind-Beziehung war sehr angegriffen – ich habe das nur viele Jahre einfach nicht wahrgenommen. Aber wer seine ganzen negativen Emotionen, Erlebnisse und Empfindungen in eine Schublade steckt und diese krampfhaft verschließt, der erlebt irgendwann den Over-Kill.

Meist in solchen Situationen, wie der Aufopferung für einen Angehörigen. An dieser Stelle unterstütze ich die Betroffenen und lehre sie, wie sie diese Situation als Chance für sich selbst sehen können. Diese Verbindung, die in der Situation zu einem Angehörigen besteht, ist die beste Grundlage, um sich selbst zu heilen.

Hast du das selbst auch so gemacht?

Natürlich. Die Zeit, in der meine Mutter bei mir gelebt hat, nutzte ich, um meine Schatulle mit all den schlechten Emotionen immer wieder zu öffnen. Wenn sie einen klaren Moment hatte, fragte ich sie, warum sie mich so behandelte.. Antworten, die mir schon als Kind verwehrt blieben, die ich aber brauchte, um selber in die Heilung gehen zu können..

Erwischte ich meine Mutter auf dem richtigen Fuß, konnten wir auf einmal stundenlang darüber sprechen, was mich bedrückte. Sie hörte mir zu, gab mir die dringend benötigten Antworten – ich begann zu heilen. Jede Minute, so schwer und herausfordernd sie auch war, war es wert. Dadurch erkannte ich auch, dass es nicht meine Pflicht ist, meine Mutter bis in einen Burnout zu pflegen. Auch wenn die Gesellschaft es egoistisch sehen mag, aber ich muss mein Leben schützen. Ebenso wie jede andere, die diese Aufgabe übernimmt.

Heute ist meine Mutter für mich ein Mensch, dier mit Demenz lebt, für den ich mich aber nicht aufgeben muss, weil ich mein Leben leben darf . Ich sorge liebevoll für sie, verbringe Zeit mit ihr, habe für sie ein gutes und freundliches Wohnheim gefunden, in dem sie sich gut fühlt und mit ihrer Erkrankung gesehen wird. Heute kann ich meine Mutter einfach so bedingungslos lieben, ohne das andauernde Pflichtgefühl.

Und ich, als Unternehmerin, kann mich auf dieser Grundlage endlich wieder entwickeln, meine eigenen Ziele erreichen und glücklich werden. Denn jeder hat das Recht auf sein eigenes Glück.

Denkst du, dass Demenz aus dieser Verdrängung von Erlebnissen und Emotionen entstehen könnte?

Ja. Als meine Mutter immer symptomatischer wurde, versuchte ich alles zu lernen und aufzunehmen, was mit dem Thema Demenz in Verbindung stand. Die Grundlage bilden sowohl psychische als auch körperliche Ursachen. Vor allem bei Generationen, wie der meiner Mutter. Die in der Kriegs- und Nachkriegszeit so viele unmenschliche Dinge erleben mussten, dass sie keine andere Wahl hatten, als alles in eine Schatulle zu sperren und zu vergessen.

Aber wer die kleine Schatulle nicht ab und an mal öffnet und ein bisschen was daraus verarbeitet, der kapituliert irgendwann. Und dann ist es besser sich als Person und alles, was daran hängt,  einfach zu vergessen – weil es einen sonst auffrisst und deine Angehörigen gleich mit.

Wie schaffst du es mit den Situationen umzugehen, die dir täglich berichtet werden?

Zunächst einmal achte ich extrem auf mich. Mache Yoga, meditiere, setze mich bewusst mit meinen Problemen auseinander, löse sie und lebe gesund, habe gelernt, meine Gedanken zu beobachten und zu kontrollieren. Ich gehe auf jede Person neutral zu und berate sie. Hole sie dort ab, wo sie sich befindet, aber mit Mitgefühl und ohne Mitleid.

Das ist das Allerwichtigste. Wenn wir im Frieden und Liebe mit uns sind, uns akzeptieren und lernen, dem gesellschaftlichen Druck zu entkommen, dann ist wieder Platz für die eigene Entfaltung, Entwicklung und Zufriedenheit. Und allein dadurch kann ich für andere da sein und sie unterstützen, wenn sie mich brauchen.

weiter lesen

weitere Artikel in Interview

oben